von süss bis ungeniessbar

Auf – und wieder zu!

Seit knapp drei Monaten steht die geschlossene und vollgepackte Spitaltasche meines Göttergatten im Zimmer. Seit knapp drei Monaten schaue ich sie immer wieder an und frage mich, warum ich sie nicht aufmachen kann. Die Kleider, die er kurz vor seinem Tod getragen hat, sind zusammen mit seinen persönlichen Sachen noch in der Tasche.

Gestern Abend hatte ich auf einmal das Gefühl, die Tasche öffnen zu müssen. Es ist nicht so, dass ich ein Überraschungsei erwartet hätte – aber es war ein sehr komisches Gefühl. Schliesslich habe ich über Jahre diese Tasche immer wieder frisch gepackt, Dinge nach Hause genommen, gewaschen und frische Wäsche nachgeliefert. Diesmal war es anders. Ich habe zwar – wie versprochen – sowohl den Göttergatten als auch seine Tasche aus dem Spital wieder nach Hause genommen. Diesmal musste ich aber die Tasche nicht mehr umpacken. Sie wurde nicht mehr gebraucht.

Beim Öffnen der Tasche kam mir der vertraute Geruch meines Göttergatten entgegen. So muss sich ein Hund beim Gassigehen fühlen. Ich habe an seinem Pyjama geschnüffelt und mein Gesicht darin vergraben. Um meine Brust hat sich augenblicklich ein Gefühl eines zu engen Gürtels gelegt. Dieser vertraute und geliebte Geruch – und sofort die Erkenntnis, dass es den nie mehr bei einer Umarmung geben wird. Ein kurzer Heulkrampf hat mich durchgeschüttelt und ich habe all diese geliebten Dinge wieder zurück in die Tasche gesteckt.

Nun ist der Reissverschluss wieder zu und ich weiss nicht, ob ich es jemals schaffen werde, diese Sachen auszupacken oder wegzugeben. Es ist der einzige Ort, wo der Geruch meines Göttergatten noch präsent ist. Selbst Unterwäsche und Socken habe ich wieder reingesteckt. Ich hatte nämlich das grosse Glück, einen gut riechenden Göttergatten gehabt zu haben. Er hat NIE übel gerochen. Nicht einmal im Krankenhaus. Sein natürlicher Körpergeruch war für mich wie etwas, was nach ZUHAUSE riecht. Eine Umarmung von ihm und ich atmete das Gefühl von „alles wird gut“ ein. Immer schon.

Und genau diese Dinge sind es, die so furchtbar fehlen. Ob es jetzt nach drei Monaten besser wird? Nein! Genau das umgekehrte ist der Fall – es wird aktuell täglich schlimmer. Das Vermissen fängt jetzt erst so richtig an. Und es tut nicht nur in der Seele weh – der ganze Körper schmerzt.

Ich weiss, dass es irgendwann sanfter wird – und nicht mehr ganz so präsent und stark sein wird. Aber nichts wird jemals ersetzen können, was ich verloren habe. Und dafür bedauere ich mich manchmal ganz fürchterlich. Den Weg alleine weiterzugehen ist eine der grossen Aufgaben, die das Leben an alle Paare stellt. Im Normalfall muss nämlich immer einer den Weg alleine weitergehen – man stirbt selten gemeinsam.

Da ich jemand bin, der viele Erinnerungen und Ereignisse mit Gerüchen verbindet (ich habe ein feines Näschen), wird mir Angst beim Gedanken, den Geruch ganz zu verlieren. Auch sein Parfum kann daran nichts ändern – weil es ist eben „nur“ sein Parfum, es ist nicht sein menschlicher Geruch.

Hart und steinig, dieser Weg …

„Was machst Du eigentlich jetzt?“

Bald sind drei Monate vergangen, seit wir meinen Göttergatten ziehen lassen mussten. Für mich und für viele andere war der Trugschluss logisch, dass es nach drei Monaten eigentlich wieder besser gehen sollte.

Aber eben: T R U G S C H L U S S !!!

Auch wenn ich bestens auf alles vorbereitet war, so haut es mich regelmässig aus der Spur. Und auf die Frage, was ich denn jetzt eigentlich mache, lautet aktuell meine Antwort: Trauerarbeit!

Klar mache ich noch ganz viel anderes. Aber in erster Linie ist es gefühlt fast nur Trauerarbeit. Und ich kann euch garantieren: Es ist das mit Abstand anstrengendste Lebensprojekt, das ich je hatte. Eigentlich ist es Schwerarbeit für Seele und Körper:

. 24/7 – Job
. Wenig Schlaf
. Grosse Verunsicherung
. Täglich neue Situationen
. Üble Träume
. Herzschmerzen
. Motivationsverlust
. Kontrollverlust
. Ständiges Suchen nach neuem Sinn
. 24/7 – Fragen
. 24/7 – Lernen
. Aushalten von Stille
. Aushalten von Einsamkeit
. Physische Reaktionen, die Angst machen (bin ich nun auch krank?).

Ich habe noch nie eine ähnliche Situation erlebt, die mir derart bewusst gemacht hat, dass ich mich selber täglich disziplinieren muss und kann, um mich nicht vom Strudel der Trauer runterziehen zu lassen. Das fängt mit dem Aufstehen morgens an (ohne den vertrauten Geruch des Göttergatten-Kaffees) und hört beim geregelten Zubettgehen abends auf (ohne dass der Göttergatte mich von der Coach holt, damit ich ins Bett gehe). Ja, selbst ist nun die Frau. Und das klingt einfach, ist es aber überhaupt nicht!

Die vermeintlich normalsten Dinge fühlen sich manchmal an, als ob mir jemand an jedes Bein einen Betonschuh gelegt hätte und genauso beschwerlich werden dann auch die Tage und die Aktivitäten. Früher habe ich ohne mit der Wimper zu zucken 6 Dinge gleichzeitig gemacht und hatte dann noch Kapazität, um zu Hause klar Schiff zu machen. Heute mache ich diese Dinge nacheinander und bin abends schon stolz, wenn ich dabei nicht die Hälfte doch vergessen habe. Die Konzentration leidet nämlich unter der Trauer auch massiv!

Und für jene, die es bislang nicht wussten: Trauer kann körperliche Schmerzen verursachen. Es gibt Tage, an denen schmerzt jeder Knochen und ich habe gefühlt übel Muskelkater. Aus dem Nichts, einfach so. Und mein biologisches Alter schätze ich an jenen Tagen auf 93. Schon der Gang zur Waschküche wird dann zum Kraftakt.

Ja, was mache ich eigentlich?

T R A U E R A R B E I T !!!!

Ein saumässiger Chrampf …

Alleine oder einsam?

Ich habe als Peer nun das grosse Glück, einen wunderbaren Coach gefunden zu haben, der mit offenen Ohren, einem grossen Herzen und eines ebenso harten Verlustes seines Herzmenschen nicht nur die richtigen Fragen stellt – er schreibt auch hervorragende Kommentare. Den letzten dieser Kommentare möchte ich euch hier als Post präsentieren – ich finde ihn nämlich schlicht perfekt. The stage is yours, coach:

„Einsam sein, heisst nicht, dass man keine Freunde hat, die für einen da sind.
Einsam sein heisst, dass das, was das Herz glücklich macht, plötzlich fehlt!“

Wieso erst jetzt sich einsam fühlen? Die Antwort liegt auf der Hand, aber oftmals vergeht viel Zeit, bis man dahinter kommt.

Es ist nicht, weil die Freunde keine Zeit mehr haben. Das Beileid aus unserem Umfeld brauchen wir unbedingt, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Die Betroffenheit und Anteilnahme ist bekanntermassen grösser, wenn die verstorbene Person sehr jung war, auf tragische Art oder unerwartet verstorben ist. Man trauert um das Schicksal der verstorbenen Person.

Aber ist das „alles“? Vergessen wir nicht etwas Wichtiges?
Doch: Bei der Trauer geht es nicht nur um die verstorbene Person, vielmehr sollten die engsten Angehörigen im Zentrum unseres Beileids stehen. Und noch viel wichtiger: Wenn man 40 Jahre gemeinsam durch alle Hochs und Tiefs gegangen ist, den Schmerz des Verlustes des über alles geliebten Menschen „überlebt“ hat, ist eigentlich der Moment gekommen, um sich selber zu betrauern.

Selbstmitleid?!
Ein zu Unrecht negativ behafteter Begriff.
Habe ich als engste Hinterbliebene überhaupt das Recht, mein Schicksal zu beklagen, dass ich plötzlich alleine dastehe? Habe ich es überhaupt verdient, habe ich alles „richtig“ gemacht? War ich in meiner Beziehung dankbar für all das, was ich jetzt vermisse? Oder muss ich mich bei solchen Gedanken schämen – schlussendlich kann ich ja weiterleben? Was denken denn meine Freunde, wenn ich solche Aussagen mache?

Selbstmitleid ist ein wichtiger Schritt im Trauerprozess, den wir nicht auslassen dürfen.

„Eine Form der Einsamkeit ist, Erinnerungen zu haben, die man mit niemandem teilen kann.“
Peter E. Schumacher

Es gibt tatsächlich keinen Ersatz für das Urvertraute, das Innig-Geliebte. Wenigstens nicht sofort – es hatte sich ja über die Jahrzehnte entwickelt.
Hier fängt tatsächlich die TrauerARBEIT an. Die Hinterbliebenen müssen an sich selber schaffen. Und für diese Trauerarbeit gibt es keine Pauschallösung. Dafür zum Glück unzählige richtige Varianten und nur einen Irrweg, nämlich all das was man Gutes für die verstorbene Person geleistet hat zu „vergessen“ und die vermeintlichen „Fehler“ in den Vordergrund zu stellen und sich selbst abzuwerten. Schuldgefühle sind ein Irrweg, ebenso die eigenen Bedürfnisse zu verdrängen oder sogar zu leugnen.
Plötzlich ist sie da, die Einsamkeit – wenn alles getan ist, in liebevoller Erinnerung Abschied zu nehmen und zu akzeptieren, dass der Herzensmensch tatsächlich nicht mehr zurückkommt.

Um die Einsamkeit zu überwinden, geht es um Selbstmitleid. Und es braucht keine guten Ratschläge, sondern Mitgefühl, dass das Wertvollste im Leben genommen wurde, dass das Leben „ungerecht“ war und man voller Wut und Hass und im nächsten Moment voller Angst und Verzweiflung ist. Es braucht Zuhörer und keine Kommentatoren. Und für sich selbst muss man akzeptieren, dass man total neben der Spur stehen darf, ohne sich dafür schämen, schlecht machen oder hinterfragen zu müssen.

Und plötzlich ist man immer häufiger alleine und immer seltener einsam.

Tschüss Palma …

… und hallo Zuhause!

Irgendwie haben sich solche Sätze früher besser angefühlt. Und ich muss gestehen: Hätte ich keine Enkelkinder, die damit gerechnet haben, dass Grosi nach vier mal Schlafen wieder zurück ist, dann hätte ich meinen Aufenthalt verlängert.

Ich habe in Palma geschlafen wie ein Baby. Ich hatte die Wahl, ob ich mich zurückziehen oder ob ich in Gesellschaft sein wollte. Ich war bedeutend aktiver, als ich es hier bin. Ich habe mich über die Wärme gefreut und die freundlichen Menschen haben meiner Seele gut getan.

Habt ihr gewusst: Wenn man in den Gassen Palmas zu tanzen anfängt, weil die Laune im Hoch ist, dann tanzen fremde Menschen einfach mit und freuen sich.
Versucht das mal hier in unseren Gefilden. Vermutlich rückt dann ein Transporter mit Zwangsjacke an …

Dann ist da die Sache mit dem Heimkommen. Es fühlt sich gut an, sein Zuhause zu riechen, die Familie wieder zu sehen und die Erinnerungen alle wieder um sich zu haben. Aber: Es fühlt sich komplett falsch an, im leeren Haus dem Göttergatten nicht erzählen zu können, was ich alles erlebt habe. Zwar flippt klein Ellie jedesmal aus, wenn ich nach Hause komme (soweit das in ihrem hohen Alter eben noch geht), aber sonst ist das Heimkommen nicht einmal mehr ansatzweise das, was es einmal war.

Das Gefühl, wenn ich unser Haus nach mehrtägiger Abwesenheit sehe, ist wohlig und warm. Wenn ich das Haus betrete, kommt ein beklemmendes Drücken im Brustbereich. Und ein Kloss steckt im Hals. Ich weiss wohl, dass ganz nah meine ganze Familie lebt. Aber die Lücke, die mich im Haus empfängt, fühlt sich an wie ein frostiges Loch!

Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich kurz denke, dass ich dieses und jenes meinem Göttergatten erzählen und zeigen muss. Und dann wird mir in Bruchteilen von Sekunden klar, dass das ja gar nicht mehr geht. So ganz ist es also immer noch nicht bei mir angekommen, dass ich ihm nie mehr etwas werde erzählen können. Und dann kommt sie, die fiese Leere, die mir von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln kriecht und mir diesen Schleier der unsäglichen Trauer und des Vermissens über den Körper wirft.

Ich habe regelmässig dieses Flashback aus meiner Kindheit. Als lungenkrankes Kind musste ich in Saanen einen längeren Kuraufenthalt in einem Kinderheim machen. Und wie das früher so war: Ohne Eltern! Ich weiss noch heute, wie sehr ich mein Zuhause und meine Eltern vermisst habe und wie furchtbar weh das getan hat. Und genau dieses Gefühl kommt heute jedesmal, wenn ich bewusst realisiere, dass der Göttergatte nicht mehr da ist.

Der Göttergatte und ich haben zwar regelmässig getrennt Urlaub gemacht – er mit seinen Freunden und seinen Hobbys, ich mit meinen Freunden und meinen Hobbys. Aber das Heimkommen hat sich halt schon anders angefühlt, als es das jetzt tut …!

Leute, ich weiss jetzt, warum man nach dem Verlust eines Herzmenschen von TrauerARBEIT spricht – es ist ein verdammter Kraftakt, den man da stemmen muss, um nicht im Sog der Abwärtsspirale unterzugehen. Ganz schön heftig!

Ich werde zeitnah wieder abreisen – einfach weil es im Moment grad einfacher ist zu gehen, als zu kommen – auch wenn ich die Kraft dafür manchmal auch aus jeder Ecke zusammenkratzen muss.

Social overload

Ich weile immer noch mit meinen Freunden in Palma. Das einstige Zugpferd und die Rampensau in mir scheinen durch den Tod meines Göttergatten einen argen Dämpfer bekommen zu haben. An Tag drei macht sich bei mir ein „social overload“, oder zu Deutsch eine Überdosis an Menschen, Eindrücken und Lärm bemerkbar. Jup, das gehört nun also auch zu mir.

Ich merke, wie tägliche Aktivitäten von 12 Stunden mit Menschen und unter Menschen mir die Energie abziehen, wie einem Duracell-Häschen, wenn es mit M-Budget Batterien gefüttert wird. Dann passiert es, dass abends um 22 Uhr meine Lampen im Kopf von selber löschen und ich mich nicht mehr konzentrieren kann. Ich habe dann auch keine Lust mehr auf Gespräche oder anderweitige Aktivitäten. Ich möchte einfach nur noch meine Ruhe …

Es gab mal eine Zeit, in der ich der Ruhe nichts abgewinnen konnte. Es musste immer etwas laufen. Tja, die Zeiten haben sich nun also geändert.

Ich bin gerade dabei, die Alarmzeichen meines Körpers zu erkennen, bevor die Überlastung schon da ist. Das fällt mir noch etwas schwer, zumal ich die meisten Jahre meines Lebens nicht so war.

Eines habe ich aber schon gelernt, und das ziemlich schnell: Wenn ich die Nase voll habe von Menschen (auch netten Menschen), von Gesprächen, von Eindrücken, Gerüchen und Geräuschen, dann sage ich das und ziehe mich zurück. Meine Familie und meine Freunde verstehen das – alle anderen können mir getrost gestohlen bleiben.

Morgen wird also meine schöne Terrasse mitten im Zentrum von Palma von mir in Beschlag genommen. Mit Buch, Sonnencrème und Liegestuhl werde ich mich durch den Sonntag chillen. Der Markt wird ohne mich stattfinden – meine lieben Freunde verstehen das zum Glück und wissen, dass ich ganz gerne auch mal einfach SEIN möchte.

Krass, wie sich manche Dinge im Leben auf einmal ändern …

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2025

Theme von Anders NorénHoch ↑