von süss bis ungeniessbar

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

Unglaublich, wie sehr wir Menschen uns an Abläufe, stille Vereinbarungen, tägliche Wiederholungen und Kompromisse gewöhnen. Ich habe mich im Verlauf von fast 40 Jahren Beziehung so sehr in den Fahrspuren dieser mehr oder weniger geliebten Gewohnheiten festgefahren, dass mir nach dem Tod meines Göttergatten erstmal gar nicht in den Sinn kam, etwas daran zu ändern.

Es hat schon nur ein paar Wochen gedauert, bis mir klar wurde, dass ich Dinge aus dem Kühlschrank räumen kann, die ich gar nicht mag. Ziemlich festgefahren, würde ich mal sagen.

Auch die Tatsache, dass ich nun den Masterplatz auf dem Sofa in Anspruch nehmen darf, ohne mich dabei schlecht zu fühlen, hat mich anfänglich etwas überfordert.

Und dann sind da die unzähligen Partnerschaftskompromisse, die man eingeht, um den Haussegen nicht unnötig zu strapazieren.

Ich wollte für die Enkel einen Pool – er wollte seinen schönen Rasen nicht hergeben. Es hat nun fast 4 Monate gedauert, bis ich realisiert habe, dass ich nun ein Schwimmbecken in den Garten stellen kann – weil mir der Rasen nämlich egal ist. Schlechtes Gewissen? Nö! Wenn es das nächste mal donnert, dann weiss ich, dass er heftig den Kopf geschüttelt hat!

Es gibt auch haushalttechnisch so einiges, was ich immer gerne ausgewechselt oder erneuert hätte, er aber nicht nötig und als noch gut zu gebrauchen empfand. Seit der ersten heftigen „Jetzt endlich raus damit“-Aktion habe ich bemerkt, dass ja nun ich alleine bestimme, wie es hier in meinem Zuhause und ums Haus aussehen soll. Ich muss keine Kompromisse mehr eingehen! Nicht, dass mich die Kompromisse gestört hätten – oder zumindest nicht nachhaltig gestört. Die gehören zu einer Beziehung dazu. Aber ich bin überrascht, wie sehr man sich an so vieles im Lauf der Jahre gewöhnt hat und wie sehr man sich das zuerst wieder abtrainieren muss, um im eigenen Leben den ganz eigenen Weg gehen zu können.

Ich bin auf gutem Weg – und mein Göttergatte schüttelt vermutlich zwar oft den Kopf über mich. Unterm Strich ist er aber mit Sicherheit saustolz. Er hat nämlich immer gesagt:

„Ich bin froh, dass nicht Du diejenige mit der Krankheit bist. Ich könnte das alles nicht und ich wäre verloren ohne Dich.“

Nun, lieber Göga, manchmal habe ich auch ein ziemliches Schwimmfest und musste schon seeeehr kreativ werden, um nicht stecken zu bleiben. Aber verloren bin ich nicht – und dafür bin ich dankbar.

Ganz schön ruhig hier …

Ja, die letzten Tage bzw. Wochen waren ziemlich ruhig auf meinem Kanal. Viele von euch haben sich nach meinem Befinden erkundigt. Deshalb gleich vorneweg:
Es geht mir gut! Zugegeben, nicht immer, aber meistens.

Durch meine Arbeit als Peer für die Krebsliga und inzwischen auch als selbständige „Flügelfrau“ für Familien mit einem Patienten mit einer unheilbaren Krankheit bin ich gerade sehr eingespannt. Meine Geschichten seit dem Tod meines Göttergatten haben offenbar mehr Menschen erreicht, als ich gedacht habe. Und es sind viele Betroffene da draussen auf mich zugekommen, weil sie wissen möchten, wie ich mit meiner Familie unsere Situation während der Krankheit und nach dem Tod gehandhabt habe. Wer jetzt denkt, es sei nur aus Neugier, den muss ich enttäuschen. NEIN!

Es gibt unfassbar viele Familien, die in ähnlich schwierigen Situationen leben, wie wir das über acht Jahre getan haben. Und weil man in unserem hochzivilisierten Land über tödliche Krankheiten und den Tod nicht redet, ersticken diese Familien fast in ihrem psychischen Elend. Die Tatsache, dass ich offensiv und ziemlich schmerzfrei über all diese Themen kommuniziere, scheint einiges in Bewegung zu bringen. Es wird aber auch Zeit!!!

Inzwischen habe ich soviele Anfragen von Menschen, die schon nur für ein offenes Gespräch dankbar wären, dass ich leider nicht mehr alle annehmen kann. Und das zeigt mir, dass da dringend Bedarf besteht, etwas zu unternehmen. Um die Patienten selber wird sich in unserem Sytem (mehr oder weniger gut) gekümmert. Die Angehörigen, welche die Last und den Druck einer schweren Erkrankung eines lieben Menschen aber VOLL mittragen, die müssen selber schauen, wo sie bleiben. Und wehe, diese Angehörigen müssen dazu noch die monetäre Existenz sichern und sich um den Haushalt kümmern. Dann wird die Luft für innerfamiliäre Hilfestellungen sehr dünn. Zumal unseren Krankenhäusern der Sparhammer im Nacken hängt und die meisten Ärzte schlicht die Zeit nicht mehr haben, mehr als das Nötigste für einen Patienten und seine Angehörigen zu tun. Da ist das Verschwinden von wertvollen Informationen oder das falsche Interpretieren von wichtigen Bildern leider an der Tagesordnung. Übertrieben? Nein, leider nicht!

Alle Hilfesuchenden, die bei mir landen, haben mindestens ein Problem gemeinsam: Sie werden mit ihren Fragen im Regen stehen gelassen. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie haben das Gefühl, ein Last für unser krankes Gesundheitssystem zu sein und sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

Und da komme ich ins Spiel: Wer weiss besser wie es sich anfühlt, knietief in der Scheisse zu stehen, als jemand der es selber erlebt hat? Ja, ich hätte mir damals zu Beginn unserer Onkogeschichte eine Flügelfrau oder einen Flügelmann gewünscht, der mich hätte anleiten können. Stattdessen habe ich mich tage- und nächtelang in Befunde, Studien und Statistiken eingelesen. Ich habe mich national und international nach Möglichkeiten erkundigt, die meinem Göttergatten mehr Lebenszeit schenken konnten. Ich habe mich mit Ärzten gestritten, die ihn partout einfach abschreiben wollten und ich habe mit meinen Kindern ein familieninternes Onkoboard gegründet, in welchem wir uns regelmässig ausgetauscht haben (6 Augen sehen mehr als 2).

All dies und seine starke Einstellung zum Leben haben uns über mehr als 8 Jahre getragen. Und das, obwohl man uns nicht mehr als 3 – 6 Monate auf dem Lebenskonto gutschreiben wollte. Das zeigt mir, dass wichtige Informationen, ein stabiles Netzwerk und ganz viel Zeit unabdingbar sind, um Lebenszeit gewinnen zu können.

Kein Wunder also, dass es da draussen x Leute gibt, die wissen möchten, ob die Tatsache, dass man sie auch abgeschrieben hat, nun wirklich einfach akzeptiert werden muss oder wie man damit umgehen kann. Und wenn der Tod meines Göttergatten auch nur ansatzweise einen plausiblen Grund gehabt haben soll, dann muss es jener sein, dass ich gelernt habe, mit all diesen komplexen Dingen so gut umzugehen, dass ich es jetzt anderen Familien weitergeben kann.

Und unter anderem deshalb ist es aktuell recht ruhig auf meinem Kanal …!
Übrigens sind Helfer-/innen mit Erfahrung, Mut, Offenheit, Interesse und grossen Herzen sehr gesucht. Entweder als Peers bei der Krebsliga (https://peerplattform.krebsliga.ch) oder als Flügelfrauen-/männer unterstützend direkt bei mir: modepraline@gmx.ch.

Hallo Schönheit

Jedes Jahr, fast identisch auf den Tag genau, blüht unsere wunderschöne Pfingstrose. Und jedes Jahr hat der Göttergatte diese Pracht bildlich festgehalten. Er war von uns der Fotograf mit dem ultimativen Auge. Ich drücke einfach irgendwie ab – und hoffe, dass das Objekt der Begierde auch auf dem Bild mit drauf ist.

In diesem Jahr fühlt sich diese Blütezeit komisch an. Sie blüht wunderschön und fast auf den Tag genau, wie die letzten drei Jahre. Aber diese Blüten machen mir so richtig bewusst, wie gnadenlos der Erdball sich weiterdreht, wenn ein geliebter Mensch vorausgegangen ist. Die Natur erwacht in voller Pracht und die Blüten unserer Pfingstrose zeigen sich in voller Grösse. Ihnen ist egal, ob und wer ein Foto von ihnen schiesst. Ihnen ist auch egal, wer sie wässert oder ob sich jemand an ihnen erfreut.

Für das menschliche Verständnis müssten doch diese Blüten zumindest eine Träne verdrücken, weil der Göttergatte nicht mehr da ist, um sich an ihnen zu erfreuen. Aber da ist nichts. Sie blühen stinkfrech vor sich hin und es ist ihnen schnurzegal.

Eigentlich eine gute Einrichtung, der Lauf der Dinge – denn würde es bei jedem Todesfall zum Stillstand kommen, dann würde sich unser Erdball nicht mehr drehen. Eine logische Konsequenz aus Anfang und Ende, aus Leben und Sterben und aus der Historie der Menschheit.

Der Kopf weiss es. Und doch fühlen sich die Blüten in diesem Jahr besonders an. Besonders schön, besonders frech und besonders aufmüpfig. Als ob sie sagen möchten: Und wir blühen genauso weiter, wie wir das immer getan haben.

Recht haben sie. Diesmal schneide ich mir aber eine ab und nehme sie zu mir auf den Salontisch. Warum? Weil ich das früher nie gemacht habe und schliesslich ist es nicht mehr wie früher.

Grenzen sprengen für Anfänger

Ich gehöre nicht zu den Mutigen dieser Welt. Eigentlich würde ich sogar soweit gehen, dass ich in vielerlei Hinsicht ein wahrer Angsthase bin. Die letzten Jahre auf dem Onkoplaneten haben das leider nicht besser gemacht – im Gegenteil. Ich wurde noch ängstlicher und fatalistischer. Nun probiere ich mich Schritt für Schritt wieder mehr in Richtung Mut und Freiheit zu kämpfen. Was für andere ganz normal ist, wird für mich eine Herkulesaufgabe.

Welche persönlichen Grenzen habe ich die letzten Tage für mich gesprengt?

. Ich habe einen Nachtflug absolviert.
. Ich habe eine klimatisierte Mall mit Kunstlicht und gefühlt Millionen Menschen besucht.
. Ich bin jeden Tag im Meer geschwommen, selbst mit ziemlichem Wellengang.
. Trotz Quallen habe ich mich ins Meer gewagt.
. Ich habe mich in ein Kopftuch und einen Umhang gehüllt.
. Ich habe eine Moschee zu besucht.
. Ich habe beim Chinesen gegessen.
. Ich bin trotz massiver Bauchprobleme (hat nichts mit dem Chinesen zu tun) nicht vorzeitig abgereist.

So, und auch wenn das für die meisten von euch vermutlich keine wirklich mutigen Aktionen sind, so klopfe ich mir jetzt einmal selber auf die Schulter und sage:

GUT GEMACHT! Die Richtung stimmt. Zwar in kleinen Schritten, aber in die richtige Richtung.

Ich weiss, dass der Göttergatte verdammt stolz auf mich wäre, denn er wusste, was für ein Angsthase ich bin. Wie sage ich immer so schön: Je grösser die Klappe, umso kleiner der Mut. Stimmt in meinem Fall absolut!

Ich nehme jetzt also noch die nächsten 12 Stunden Rückreise in Angriff und dann bin ich ein kleines bisschen weiter in meiner persönlichen Entwicklung. Und die wird niemals aufhören – solange ich lebe nicht!

Was werde ich vermissen?

Die Koffer sind gepackt und es geht morgen zurück in die Schweiz. Ich sitze schwitzend auf der Terrasse und frage mich, was ich zu Hause vermissen werde. Die Antwort ist ziemlich einfach: Die Aussicht aufs Meer, die fehlt mir immer sehr.

Und sonst? Eigentlich nur sie:

Die Herzmenschin, die einfach alles mitmacht, immer da ist, versteht, zuhört, diskutiert, interessiert ist und so positiv durchs Leben geht, dass sie selbst mich dazu bringt, meine Grenzen immer wieder aufs Neue zu sprengen.

Seit der Göttergatte nicht mehr lebt, habe ich bestimmt schon 1000 mal gesagt: Jeder, der einen Tiefschlag einstecken muss im Leben, sollte eine solche Herzmenschin haben. Es macht doch so einiges einfacher! Unbezahlbar.

Ich habe sogar das grosse Glück, neben einer genialen Familie ganz viele tolle Menschen um mich herum zu haben. Die bestmögliche Ausgangslage in einer doch manchmal sehr bescheidenen Lebenssituation.

Worauf freue ich mich zu Hause?

Na klaaaar:
Auf meine beiden Zwerge!!!!!
Auf meine Familie.
Auf meine Freunde.
Auf meine TV-Couch.
Auf meine Dusche.
Auf mein Skyr.

Worauf freue ich mich gar nicht?
Auf die Tatsache, dass mein Zuhause eben nur noch mein Zuhause ist. Nicht mehr unser Zuhause. Dass der Göttergatte dort nicht wartet, um mich in den Arm zu nehmen und an seinen Bauch zu drücken. Dass er keine Witze über meine Berge von Schmutzwäsche machen wird und dass er auch den Kühlschrank nicht mit Lieblingsessen gefüllt hat.

Ja, verreisen und wieder nach Hause zurückkehren ist anders geworden, seit der Göttergatte fehlt. Sehr fest anders …

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