von süss bis ungeniessbar

Menschenmangel

Wow – ich bin heute übel auf dem Boden der Realität gelandet. Ich wusste, dass es überall Fachkräftemangel gibt und ich habe auch schon mehrfach darüber geschrieben. Dass es aber grundsätzlich irgendwie an Menschen mangelt, das wurde mir heute im Jelmoli an der Zürcher Bahnhofstrasse vor Augen geführt.

Ich durfte für eine Popup-Fläche im Jelmoli einen Tag an der Front übernehmen. Quasi back to the roots – als ich noch jünger und knuspriger war und im Modezirkus gearbeitet habe. Ich hab mich so gefreut und dabei aber sehr schnell gemerkt: Es ist offenbar heute kein Kampf mehr, wer den besten Umsatz macht, sondern wer sich mit dem entspanntesten Gesicht am souveränsten die Beine in den Bauch stehen kann, ohne dabei stehend einzuschlafen.

Schnurzegal, welche Modemarke es ist – ob Brunello Cucinelli, Zegna, Etro, Cavalli, Polo Ralph Lauren oder Disquared2 – es hat nirgends Kunden. Auf meine Frage, ob das ein Ausnahmetag sei, klingt es unisono katastrophal: „Nein, das ist seit Monaten so.“

Wo sind all diese Leute hin? Mich wundert ja inzwischen nicht mehr, dass dieses geschichtsträchtige Haus im nächsten Jahr schliessen muss. NULL Frequenz. Und jene, die mit der Rolltreppe hochkamen und für einen kurzen Moment mein Herz hüpfen liessen, die sind nur nach oben ins Restaurant oder ins Gym gegangen. Hä?

Diese Bilder habe ich nach der Mittagspause um 13.30 geschossen – als ich die Hoffnung hatte, es mögen sich doch so langsam Menschen in dieses gigantische Einkaufshaus verlaufen.

NIX!!! Gähnende Leere.

Selbst das Personal ist inzwischen in eine Art Dämmermodus gefallen – sie vergessen sogar, dass sie die wenigen Leute, die sich doch noch auf die Fläche trauen, grüssen könnten. Und ich merke an mir, dass nach stundenlangem Stehen und Warten der Kopf den Schalter auf Ruhezustand legt. Man kommt dann schwerlich noch in die Gänge, wenn es denn plötzlich nötig sein sollte.

Ich jammere hier auf hohem Niveau – ich mache das gerade mal einen einzigen mühsamen Tag lang. Ich darf mir gar nicht vorstellen, wie das für jene sein muss, die sich hier tagtäglich die Beine in den Bauch stehen müssen. Und es ist Pflicht, zu stehen – die Jelmoli-Aufseher (sie führen sich ein bisschen auf wie noble Gefängniswärter) tolerieren kein Sitzen. Es hätte zwar auf jeder Markenfläche Stühle – aber die sind für die Kunden. Aha. Für welche Kunden nochmal? Egal! Es wird sich nicht hingesetzt.

Man beachte, dass das Haus morgens um 10.00 öffnet und abends um 20.00 schliesst. Heisst nach Adam Riese, dass sich die Vollzeitangestellten hier locker täglich mindestens 8, im dümmsten Fall 10 Stunden die Beine in den Bauch stehen.

Früher, als ich noch in der Modewelt tätig war, mussten wir darauf achten, dass nicht geklaut wird. Das dürfte hier kein Problem sein – es sei denn, die Angestellten tragen die Ware selber nach Hause. Ich habe sogar meinen Laptop einfach stehenlassen und bin einen Kaffee trinken gegangen. Wer sollte den schon mitnehmen – ist ja keiner da!?

Wow – der stationäre Handel scheint tatsächlich mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Ich weiss jetzt einmal mehr, warum ich im 2016 abgebrochen habe. Hätte ich das in diesem Modus wie hier weitermachen müssen, wäre ich inzwischen mindestens 10 Zentimeter kürzer vom Stehen und emotional komplett abgestumpft.

So schlimm habe ich mir die Realität nicht ansatzweise vorgestellt … 🙁

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2 Kommentare

  1. ...der Berliner

    Ähnlich geschäftliches Treiben kann man hier auch bei Karstadt beobachten.
    Ein/e Mitarbeiter/in auf jeder Etage von drei und die Kasse nur im Erdgeschoss. Früher haben sie sich um die Kunden geschlichen in der Hoffnung, gefragt zu werden und helfen zu können, heute muss man sie suchen. Musste einmal wegen einer Frage die ganze Etage ablatschen, bis ich jemand gefunden hatte. Und das Restaurant – seit 4 Monaten geschlossen mit dem Hinweisschild: Wenn Sie uns besuchen wollen, dann kommen Sie in die Galeria-Karstadt am Kurfürstendamm!
    Als wenn der Kunde von Spandau nach Charlottenburg für ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee fährt.
    Wie blöd halten sie eigentlich die Kundschaft? Ich gehe nur noch hinein, um das Haus bei Regenwetter im trockenen zu durchqueren.

    G. l. G. Jochen

    • modepraline

      Mir tut das alles sehr leid für die Angestellten – die wollten das ja auch nicht so – es ist der Zahn der Zeit, der an diesen stationären Handelsmodellen nagt und sie kaputt macht. Die Zukunft spielt ONLINE.

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